Sie heißen Einwanderer, Zuwanderer oder Migranten. Die Menschen, die zu uns kommen, haben heute meistens ganz andere Auswanderungsgründe als die Gastarbeiter, Spätaussiedler und Asylanten des vorigen Jahrhunderts. Sie kommen aus allen Himmelsrichtungen, aber die Wenigsten sind Kriegsflüchtlinge. Vor allem sind es weltwirtschaftliche und klimatische Bedingungen, die sie zur Auswanderung veranlassten. Sie alle teilen aber das gleiche Schicksal: den Verlust der heimischen Kulturgemeinschaft. Sie hatten den Mut auszuwandern, aber sie sind jetzt auf Integrationshelfer angewiesen, die Verständnis für ihre Situation aufbringen. Das sind vor allem Sprachlehrer, die selbst aus einem anderen Kulturraum gekommen sind oder weltoffene Lehrer, die Zuwanderern ihr Herz öffnen und sich für ihre Kultur interessieren.
Sprachlehrer lernen eigentlich nie aus, weil sie Menschen aus anderen Kulturen von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. Der lebenslange soziale Lernprozess ist im Zusammentreffen von Sprechern verschiedener Kulturen ganz entschieden gefragt und kann nicht halbherzig oder gewohnheitsmäßig ablaufen. Es kommen ja Menschen aus vielen Ländern zu uns, die einen Neuanfang wagen, aber weiterhin in ihrer Sprache kommunizieren und ihrer Kulturgemeinschaft verbunden bleiben. Integration ist für sie der Versuch, Anschluss an eine soziale Gemeinschaft zu finden, in der Hoffnung, trotz aller Verschiedenheit angenommen zu werden. Wenn es ihnen auch nur schwer gelingt, die andere Sprache zu lernen, so ist doch jeder Versuch ein bedeutender Schritt ihrer Annäherung an die Menschen des Landes, das ihre neue Heimat werden kann.
Ohne Zweifel wird den Einwanderern in Deutschland die notwendige wirtschaftliche und soziale Hilfe gewährt. Es ist aber andererseits offenkundig, dass die Aufnahme der meisten Einwanderer eine Notlösung ist. Es gibt ja nur sehr wenige, die in Deutschland eine Ausbildung machen und dann in ihr Heimatland zurückzukehren, um dort mit Rat und Tat beim Aufbau zu helfen. Das wird aber in naher Zukunft unumgänglich sein, wenn man bedenkt, wie vordringlich Hilfe zur Selbsthilfe statt Entwicklungshilfe ist, wenn ein globaler Markt die Welt nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten so in Blöcke teilt, dass soziale Gerechtigkeit fast undenkbar geworden ist. Dann brauchen wir eine Migrationspolitik, die Zuwanderer paritätisch in den Integrationsprozess einbezieht. Zumindest müsste man jetzt ein Integrationsprojekt erproben, das Entscheidungsgrundlage werden kann, wie es zurzeit in der Schweiz geschieht.
Das Dossier 60 der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (2000)[1] spricht Aspekte an, die in der Auseinandersetzung mit dem Integrationsproblem den Begriff ‚interkulturell’ bzw. ‚Interkulturalität’ expressis verbis als inter culturis, also zwischen Kulturen auffasst. Im Dossier werden dann konkrete Vorschläge für eine Lehrerausbildung gemacht, die einem paritätischen Zusammenleben der Kulturen förderlich sein soll: „ Das Bild von Schule und Gesellschaft als Räume einer Sprache und Kultur hat einer Vorstellung von Mehrsprachigkeit und Vielfalt der Kulturen zu weichen.“ Für die Lehrerausbildung werden u. a. Vorgaben zur „Wahrnehmung und Anerkennung kultureller Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie der Pluralisierung von Werten und Normen“ gemacht. Der Selbstbefragungsbogen der auszubildenden Lehrkräfte enthält zusätzlich zu einschlägiger didaktischer Unterweisung u. a. eine Sprachbiografie und Analyse des eigenen Fremdsprachenerwerbs, ein Gespräch mit Kindern über ihre Familiensprachen sowie Gemeinsamkeiten/Unterschiede ihrer Sprachen und ein Vergleich der Lehr- und Lernsituationen im Erst-/Zweitsprachenunterricht. Diese persönlichen Erfahrungen zwischen den Kulturen werden zurzeit gesammelt, in entsprechenden Aktivitäten des modernen Sprachunterrichts erprobt und für ein interkulturelles Curriculum genutzt.
Auch wenn dieses Projekt sich noch in der Erprobungsphase befindet, wäre sein Einsatz auch in der deutschen Lehrerausbildung dringend erforderlich. Es enthält wichtige Ansätze, die einer paritätischen Mitarbeit der Zuwanderer förderlich sind, sodass sie die Mitverantwortung an ihrer Integration übernehmen können. Alle Arten von Lernspielen, die soziales Erleben zwischen Kulturen ermöglichen, führen vom interkulturellen Verständnis im Klassenraum zur Bekanntschaft zuhause in der Familie. Solche Lernspiele sind der modernen Fremd- und Zweitsprachendidaktik ja bekannt. Dialoge, Rollenspiele und Planspiele werden vor allem dann eingesetzt, wenn natürliche Lernbereitschaft für aktives Lernen genutzt werden soll, das den Sprachlernenden Erfolgserlebnisse und Selbstvertrauen geben kann. Es geht dabei hauptsächlich um die Motivation zum Sprechen, um das Lernziel der Kommunikationsfähigkeit zu erreichen.
Dieses Lernziel ist aber dann nicht mehr angemessen, wenn es um eine wirkliche Annäherung an andere Kulturen geht. In Dialogen hätten die Lernenden nämlich Gelegenheit, Redewendungen der Zielsprache mit entsprechender Konversation in der Muttersprache zu vergleichen. Die Möglichkeit der Selbstbeobachtung im Sprach- und Kulturvergleich ermutigt sie dann, sich auf die andere Kultur einzulassen und gibt ihnen zugleich Selbstbestätigung und Selbstvertrauen. Dies ist von höchster Bedeutung, bedenkt man die natürlichen Abwehrmechanismen und Konkurrenzängste, die zwischen ethnischen Gruppen immer entstehen. Eine echte Selbsterfahrung zwischen Kulturen kann schließlich durchaus Grundlage der emanzipatorischen Unterrichtsmethode sein. Es gilt dann, die ersten Erfahrungen im Klassenzimmer um soziale Erlebnisse, z. B. Einladungen nach Hause, zu einer kulturellen Veranstaltung etc. zu erweitern und schließlich auch Reisen ins Heimatland der anderen Kultur zu unternehmen.
Im Zeitalter der Globalwirtschaft ist ohnehin ein effizienter Sprachunterricht gefordert, der es Reisenden erlaubt, Sprachen in kürzester Zeit zu erlernen. Deshalb wurden moderne Lehrbücher konzipiert, deren thematische Gestaltung typische Alltagssituationen erfasst, um auch den praktischen Ansprüchen des Last-Minute-Tourismus zu entsprechen. Schon beim ersten Durchblättern stellt man aber fest, dass die Dialoge wie bisher zu viel Wortschatz auf einmal einführen und der Grammatikeinführung Schritt für Schritt geradezu sklavisch dienen, statt Touristen mit einfachen Dialogen zum Sprechen zu ermutigen. Informationen zur Kultur des Ziellands werden zwar gegeben, enthalten aber noch zu viele spärliche Stereotypen, die nicht geeignet sind, im Globalzeitalter das nötige Verständnis zwischen Kulturen zu schaffen.
Für einen Urlaub in Barcelona z. B. muss man nicht perfekt Spanisch sprechen, aber eine Einführung in die katalanische Kultur, in den Lebensstil der Katalanen, ihre Folklore und ihre gesellschaftlichen Riten ist erforderlich. Wer nach Lateinamerika fliegen will, braucht ein solides Grundwissen der kulturellen Eigenart der Regionen mit ihrem Sittenkodex, ihrer Musik, ihrem Tanz und ihrer lebenslustigen Geselligkeit, aber auch mit den krassen sozialen Unterschieden und dem harten Arbeitsalltag im Joch der Globalwirtschaft. Persönliches interkulturelles Lernen findet ja erst dann statt, wenn Sprecher verschiedener Kulturregionen sich auf Augenhöhe, d.h. mit vergleichbarer Sprach- und Kulturkompetenz, kennen lernen können. Erst dann sind nachhaltige Kulturkontakte wirklich möglich. Wer gut vorbereitet auf die Reise geht, lernt andere Kulturen und sich selbst besser kennen. Dann ist Reisen nicht mehr Konsum, sondern eine einzigartige Chance, Brücken zwischen Kulturen zu bauen.
Wir können es uns im Zeitalter der globalen Klimakatastrophen ja wirklich nicht mehr leisten, andere Kulturen als Geber oder Nehmer anzusehen, denn wir sitzen wortwörtlich im selben Boot, das uns wie Noahs Arche über Wasser hält. Nach dem Uno-Klimagipfel gehört Cancún wieder denen, die tatsächlich über die Zukunft unseres Planeten bestimmen, den Touristen. Der Tourismus ist ja einer der größten Wirtschaftszweige der Welt. Wer Reiselustige angemessen auf den Flug vorbereitet, trägt also wirklich zu einem nachhaltigeren Tourismus und zum Erhalt wichtiger Naturschutzgebiete bei.
Lörrach, den 31.12.2010 Bernhard Wahr
[1] Lanfranchi, A., Perregaux, C. und B. Thommen (Hrsg.): Interkulturelle Pädagogik in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Zentrale Lernbereiche – Thesen – Literaturhinweise, Schlussbericht. Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), Bern 2000.
Copyright © 2010 SPRACHENSERVICE WAHR
All rights reserved. Apart from any fair dealing for the purposes of research or private study, or criticism or review, no part of this article may be reproduced, stored or transmitted in any form or by any means without the prior permission in writing from the publisher.